Reise ans Ende der Welt – Teil 9
Raue See und ergreifendes Konzert
Was für ein Tag heute! Es regnet über Stunden. Für die Bretagne quasi der Normalzustand, der aber auf meiner diesjährigen Reise noch nicht eigetreten war. Man sagt, in der Bretagne regne es jeden Tag. Die Bretonen erwidern, es regne nur auf Idioten ;-). Nun denn, das gewährt Spielraum für Interpretationen. Meist verziehen sich die Wolken recht schnell wieder. Heute aber schüttet es kräftig in kurzen Abständen.
Ich habe mich entschieden, mit dem Auto nach Portsall zu fahren. Dort war vor nunmehr 45 Jahren ein riesiger Öltanker havariert und hatte die Landschaft mit Öl verseucht. Tausende Vögel verendeten qualvoll, unzählige Fischer gingen pleite, der Tourismus kam zum Erliegen. Ein Desaster für Mensch und Natur. Und das hier – an dieser traumhaften, einzigartigen Küste! Im Hafen von Portsall erinnert der Anker des havarierten Schiffes an das Unglück. Seither hat man die Sicherheitsmaßnahmen verschärft, ein ausgeklügeltes System sorgt dafür, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Schiffsunglück an dieser so schwierigen, weil klippenreichen Küste sehr viel geringer geworden ist.
Von Portsall zurück nach Le Conquet nehme ich eine andere Route, eine, die stets dicht entlang der Küste führt, über viele Kilometer direkt neben dem Zöllnerpfad. Und ich erlebe den Atlantik in seiner ganzen energiegeladenen Ursprünglichkeit. Ich sehe die Wellen gegen die Felsen anrollen, zurückwogen, wieder „Anlauf nehmen“, gegen die Küste krachen, Gischt aufsprühen.
Ich sehe die wohl meistfotografierte kleine Kapelle, in deren Gästebuch ich mich eintrage. Ich sehe die üppig blühenden Blumenrabatten, die in jedem Ort Straßen und Wege säumen, sehe bizarre Gesteinsformationen und treffe immer wieder auf freundliche Menschen. Meine Bilder sagen mehr als viele beschreibende Worte.
Als ich am Abend in Le Conquet spazieren gehe, erlebe ich ein Konzert ganz besonderer Art. In einer Bar-Creperie (von der Anmutung her eher ein Pub) tritt eine Band auf, die ihre Musik nach draußen auf die Straße überträgt. Dort tanzen die Menschen, singen, klatschen mit, halten sich an den Händen. Die Band – acht oder neun ältere Herren, der jüngste vielleicht um die 60. Schifferklavier, Gitarre und Gesang intonieren Shantys und Volkslieder. Und alle Gäste drinnen wie draußen singen mit. Die Musik erinnert an irische Folklore und eben Seemannslieder. „What shell we do with the drunken sailer“ auf Bretonisch – das erkenne ich. Ich „mische mich unters Volk“, trinke eine Cidre und fühle mich mitnichten fremd. So ursprünglich und frei wie die Natur hier ist, so fröhlich, ja inbrünstig singen alle mit. Was für ein tolles Erlebnis, was für ein Geschenk!
Mein Handy habe ich nicht dabei. Fotos und Videos also gibt es keine. Aber den Abend werde ich dennoch nicht vergessen.
Jetzt sitze ich hier, schreibe vom Tag, und draußen hat sich die Sonne den Himmel zurückerobert. Ich werde zum Strand gehen und schauen, ob dieser so wunderbare Tag auch noch einen spektakulären Sonnenuntergang feiert.
Fortsetzung folgt
Autor: B. Köhler Fotos: B. Köhler